Mittwoch, 7. September 2011

Das ferne Mädchen


by Robert Brook 
 Manchmal erkennt man sich selbst nicht mehr wieder, wenn man alte, selbst geschriebene Texte aufspürt und die Person dahinter erkennen will - die doch eigentlich in sich selbst begründet ist.

Die lebenserfüllte Stimme liest mir zarte Zeilen von Sappho vor. Seltsam tief berührt mich diese schwere Leichtigkeit, in der das Leben beschrieben wird. Ein Wesenszug wird wieder erweckt und sie liest die Poesie dazu. Da sitze ich nun und lasse dich an mein tiefstes Inneres heran. Alledem, was ich bisher nur meinem Mann offenbarte. Ich merkte, wie ich immer mehr abhängig von dir, deinen Meinungen, deinen Gedanken, deinen Blicken und tröstenden Berührungen wurde. Doch nach einiger Zeit wurde mir mit Schrecken bewusst, dass du mehr als ein Fels in der Brandung bist, mehr als etwas, an das ich mich in einer Krise festhalten konnte. Deine Standhaftigkeit hatte sich mit meiner Schwäche zu einem Gefühl eines ganz neuen Wesens vereint. So hat sie auch mich an das ferne Mädchen eben erinnert, deren holdes Schreiten ich lieber sähe. Erst nannte ich es eine außergewöhnlich große Seelenverwandtschaft. Dann eine platonische Liebe. Doch irgendwann musste ich mir selbst, der bürgerlich konservativ im behütenden Protestantismus aufgezogenen Frau eingestehen, dass du mich auf unbarmherzig, schrecklich wahre und schöne Art und Weise an die Liebe erinnert hast. Du selbst hast dich als Verkörperung dieser Erinnerung präsentiert – und schließlich wurdest du mein Mittelpunkt der Gegenwart und Zukunft. Es war schlicht und ergreifend die Liebe, die langsam in mir gedieh, dafür aber starke Wurzeln schlug und jeden Tag neue Blätter austrieb. Dichter und dichter wurde die Krone – ich sah nicht mehr den Himmel, war ihm aber noch nie so nahe. Wolken von Weihrauch. All die Zeit hatte ich vor mir Angst. Was machst du nur mit mir? Spielst mit meinen Gefühlen, sodass sie mich täuschen. Bringst Verwirrung in meinen trauernden, leeren Kopf. Machst selbst nicht vor meiner Liebe halt. Ich dachte zunächst: Sie ist gewiss verfälscht worden durch die ganze Krise. Nachdem ich alles überstanden habe, wird sich das stabilisieren. Ich unterlag einem Irrtum. Ich wurde stabiler mit jedem Tag – und dazu wuchs meine Liebe und die Fähigkeit, diese an zu erkennen. Vollends überwunden habe ich diese Selbstverleumdung, als unsere Nähe der Seelen auch in der Nähe der Körper Ausdruck fanden. Nie zuvor hatte ich das Gefühl, auch bei diesem triebbestimmten Akt für mein ganzes Wesen, auch für meine Seele, geliebt zu werden. Der Satz „Ich liebe dich“ erlangt aus deinem Mund, mit deiner Stimme, deinem Blick und deinen Gesten eine völlig neue Bedeutung. Auch wenn ich diesen Satz erwidere, klingt meine Stimme so sehr anders. Erfüllt. Ich wage sogar zu behaupten, dass ich trotz all der Geschehnisse im größten und schönsten Teilaspekt des Lebens Glück gefunden habe.

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